Die Reise mit Bayer 04 zum Spiel bei den Glasgow Rangers wurde ein surreales Erlebnis. Eine Reportage von Stephan von Nocks.
Ein Erlebnisbericht von Stephan von Nocks
Diese Reportage erschien erstmals online am 17. März 2020. Wenige Tage zuvor absolvierten Gladbach und Köln aufgrund der Corona-Pandemie das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte, im Europa-League-Achtelfinale in Glasgow aber war der Ibrox Park noch voll.
Und dann fängt mich Ibrox mit all seiner Wucht doch ein. In den letzten Minuten vor dem Anstoß der Europa-
League-Partie von Bayer 04 bei den Glasgow Rangers packt mich der Roar der 47.494 in der Kultstätte. Welch eine Lautstärke! Welch eine Power! Kurz bekommt der Fußball-Nerd in mir leuchtende Augen. Ibrox muss man einmal erlebt haben. Doch lange hält der Zauber nicht.
Das übliche Gefühl der Vorfreude auf so ein Spiel in einer so besonderen Arena mochte sich bei mir in den Stunden vor dem Anpfiff am Donnerstag ohnehin schon nicht einstellen. Was auch daran lag, dass ich nicht glaube, dass diese Partie zu einem Wettbewerb gehört, der wirklich zu Ende gespielt wird.
Diese Einschätzung hatte sich am Spieltag bereits entwickelt, bevor die Meldung der Marca von der Aussetzung der Spiele in der Europa League und der Champions League die Runde machte. Der erste Dominostein war schon früher gefallen. Die Breaking News, dass Real Madrid wegen Covid-19 in Quarantäne muss und die spanische Liga den Spielbetrieb einstellt, hatte keine andere Konsequenz realistisch erscheinen lassen. So lässt die Situation es auch nicht zu, dass ich irgendein normales Verhältnis zu diesem Spiel aufbaue. Den Profis beider Klubs soll dies später viel besser gelingen.
Schizophrene Gedanken, bizarre Partie
Was in den Stunden vor dem Anpfiff in meinem Kopf geschieht, ist schizophren. Ich hoffe tatsächlich, dass das Spiel im Ibrox nicht abgesagt wird. Aber warum eigentlich? Um noch mal für lange Zeit ein letztes Spiel vor Zuschauern zu erleben? In den anderen Stadien Europas wird an diesem Abend nur noch ohne Publikum gespielt. In Ibrox steigt gefühlt die bizarre letzte Partie eines Wettbewerbs, die kein Endspiel ist.
Aber wie bescheuert muss man sein, sich in Zeiten von Corona zu wünschen, mit 50.000 anderen Menschen in einem der engsten Stadien der Welt zu sitzen? Meine Emotio macht sich gerade über meine Ratio lustig. Bayer-Trainer Peter Bosz soll nach dem Spiel seine Statement mit den Worten „Als Erstes will ich mich dafür bedanken, dass wir in dieser Atmosphäre spielen konnten“ beginnen. Dann sagt er noch: „Wir leben in verrückten Zeiten.“ Wie recht er hat.
Soll doch in Deutschland, so ist der Stand am Donnerstag, der komplette 26. Spieltag ohne Zuschauer ausgetragen werden. Und hier? Volle Hütte in Glasgow? Sind die Schotten so ignorant? Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der registrierten Infizierten liegt an jenem Tag im Land bei 60 Personen. Das entspricht in etwa dem Stand vom 1. März in Deutschland, an dem der 24. Spieltag der Bundesliga in gut gefüllten Stadien endete. Selbst eine Woche später brummte in der Bundesliga das Geschäft am 25. Spieltag immer noch uneingeschränkt.
CATCH IT – BIN IT – KILL IT
In Ibrox wird zumindest massiv dazu ermahnt, das Virus nicht leichtfertig zu verbreiten: CATCH IT – BIN IT – KILL IT (Fang es ein – Wirf es weg – Töte es) lauten die Schlagworte, die auf den Bildschirmen im Pressekonferenzraum, im Stadionrundgang und auf den Anzeigetafeln mit klaren Anweisungen zur Handhygiene beim Naseputzen gezeigt werden.
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Zudem verteilt ein Mitarbeiter mit Einweghandschuhen das Fingerfood im Presseraum mit einer Essenszange. So weit waren wir nicht nur Anfang März in deutschen Stadien nicht. Langsam macht sich das Gefühl breit, die Eingangssequenz eines Katastrophenfilms zu erleben, allerdings nicht als Zuschauer.
Schon tagsüber jagten sich im Journalisten-Chat die Nachrichten über das Coronavirus. Zum Spiel an sich interessierte nur, ob es überhaupt angepfiffen wird. Um kurz vor 15 Uhr bestätigten die Rangers, dass die Partie mit Fans durchgeführt wird.
Kein Abklatschen und Desinfektionsriegel
Vor deren Anpfiff betreten erst die Einlaufkinder den Platz und stehen dann im Sicherheitsabstand zu den beiden Mannschaften, die später das Spielfeld betreten. Auch auf das obligatorische Abklatschen wird verzichtet. Später in der Mixed Zone, in der Leverkusens Kommunikationsdirektor Holger Tromp noch schnell eine Runde Desinfektionsgel schmeißt, tauchen die Rangers-Profis wie angekündigt nicht auf.
Für Bayer kommen Lukas Hradecky und Jonathan Tah, die zuvor den 3:1-Erfolg mit ihren etwa 800 Fans in der Kurve gefeiert hatten. „Nein, es ging noch. Wir durften nicht über die Bande, deswegen waren wir nicht so nah dran“, antwortet Tah auf die Frage, ob es Probleme gab, den Sicherheitsabstand von einem Meter einzuhalten.
Tahs starke Worte
Das Spiel ist in den Gesprächen nur Nebensache. Corona und ein möglicher Abbruch der Saison beherrscht die Szenerie. „Wenn es hilft, die Epidemie dadurch zu bekämpfen, dann stehen wir natürlich voll dahinter. Da geht es ja nicht mehr um Titel“, betont Tah die Verantwortung für die Gesellschaft. Schon am nächsten Tag wird die Weltgesundheitsorganisation Covid-19 zur Pandemie erklären. Tahs Worte sind stark wie sein Auftritt zuvor auf dem tiefen Rasen.
Dann geht’s mit dem Bus durch die Nacht zum Flughafen. Die Stimmung vor dem Boarding ist bei den Profis, von denen Hradecky im Stadion schon erklärt hatte, „ich bleibe lieber gesund, als zu spielen und krank zu werden“, trotz des Sieges verhalten. Bei den Spielern kommt die Sorge um ihre Familien auf. Und wer sagt denn, dass sich unter den rund 120 Passagieren des Charterfluges kein Infizierter befindet?
Ein Pappbecher mit Fieber und ein verzweifelter Taxifahrer
Vor dem Hinflug am Mittwochnachmittag in Köln hatte Bayer-Doc Karl-Heinrich Dittmar noch bei jeden Fluggast per Infrarotthermometer ohne Körperkontakt Fieber gemessen: Dabei schlägt das Gerät nur einmal an, als Torwarttrainer David Thiel seinen mit Kaffee gefüllten Pappbecher scannen lässt: „48 Grad“, sagt Dittmar. „Und der darf trotzdem mit?“, witzel ich in Thiels Richtung. Keine 36 Stunden später bin ich nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. Die vielen negativen Neuigkeiten verheißen nichts Gutes. Mein Blickwinkel hat sich innerhalb von zwei Tagen massiv verändert.
Der surreale Trip endet um 2.41 Uhr in der Nacht mit der Landung auf dem Flughafen Köln/Bonn. Hier vermittelt mir der letzte Teil der Reise die wahren Konsequenzen von Covid-19: Als ich um 3.09 Uhr ins Taxi steige, schaut mich der Fahrer mit verzweifeltem Gesicht an und deutet auf seinen Bordcomputer, der seine letzte Fahrt anzeigt: 21.37 Uhr! Das ist bald sechs Stunden her. „Das Geschäft ist kaputt“, sagt Andrej. Meine 35 Euro können seinen Arbeitstag auch nicht mehr retten. Nicht nur nach der heutigen Nachtschicht wird er nicht genug Geld mit nach Hause bringen, um seine Familie zu ernähren. Wir sind in einer Welt gelandet, die nicht mehr so ist wie 36 Stunden zuvor. Das Spiel in Ibrox ist endgültig zur Bedeutungslosigkeit verkommen.